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Den »Atomausstieg« als Chance sehen

Kommentar zum Artikel »Der Atomausstieg wird zu einem Risikofaktor der Energieversorgung« von Sylvius Hartwig in den »VDI nachrichten« Nr. 20, 19. Mai 2006

Wie ich den Begriff »Atomausstieg« hasse. »Atomkonsens« ist ein viel emotionsloserer Begriff. Und er trifft viel besser das, was es ist und bei genauerer Betrachtung nur sein kann: der geordnete Rückzug aus einer Technologie, deren Risiken man nicht mehr tragen möchte, oder die politisch oder technisch nicht mehr tragbar sind. Wenn ich auch die Einschätzungen von Herrn Hartwig in vielen Punkten teile, so möchte ich doch darauf hinweisen, dass sie auch zu völlig anderen Schlussfolgerungen führen können. Ich teile die Einschätzung, dass sich in den kommenden Jahren ein Fachkräftemangel in der Kerntechnik ergeben wird, halte das aber in keinster Weise für ein Argument den »Atomausstieg« rückgängig zu machen. Unverständlich ist dieses Problem nicht gerade: Kerntechnik ist in der deutschen Öffentlichkeit sehr negativ besetzt, die Anzahl potentieller Arbeitgeber ist klein, und sich als Kerntechniker ausbilden zu lassen ist aufgrund der Spezialisierung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Entscheidung fürs Leben. Anreize wie eine Arbeitsplatzgarantie, für Studenten vielleicht sogar vor Beginn des Hauptstudiums – sozusagen eine »Verbeamtung von Kerntechnikern« – könnten dem Problem ebenso entgegenwirken wie der »Ausstieg aus dem Ausstieg«. Und was man nie hört: Trotz des »Atomausstiegs« wird nach meinem Dafürhalten auch für einen deutschen Studenten der Kerntechnik am Ende seines Arbeitslebens noch genug Arbeit da sein.

Ich teile weiterhin die Ansicht, dass die Sicherheitsbemühungen in den Kernkraftwerken Deutschlands, vor allem verglichen mit dem ehemaligen Ostblock, überproportional groß sind. Ein Unfallhergang wie der von Tschernobyl ist in einem deutschen AKW nicht möglich. Die sich aus der Sicherheitsüberlegung ergebende 17:800-Abschätzung ist daher – möglicherweise – sachlich richtig, aber doch blanker Zynismus. Solchen Rechnungen kann ich nur mit dem Zynismus anderer Zahlenspiele begegnen: 4300 km2, die evakuierte Fläche rund um Tschernobyl, ist 1.2 % der Fläche Deutschlands. Von einer solchen Evakuierung wären im statistischen Schnitt hier fast eine Million Menschen betroffen. In Wirklichkeit wohl eher mehr, da AKWs nicht zufällig über das Land verteilt sind.

Als »Risikofaktor der Energieversorgung«, wie das in der Überschrift heißt, betrachte ich den Atomkonsens nicht. Zum einen ist es ein geordneter Rückzug über zwanzig und mehr Jahre, zum anderen – und das sollte man bei aller Aufregung nie vergessen – unterhalten wir uns über etwa 27 %, also einem Viertel, der gesamten deutschen Versorgung mit elektrischer Energie. Klar, eine Verknappung elektrischer Energie wird zu einer Preissteigerung führen. Schaden wird der deutsche Wohlstand daran nicht nehmen. Welche Pufferfähigkeiten in Volkswirtschaften stecken, zeigt exemplarisch ein anderer Energieträger, das Benzin. Es hat für diese Überlegung den »Vorteil«, praktisch ohne Alternative zu sein. Dessen Preis hat sich in den letzten vier Jahrzehnten inflationsbereinigt um fast 70 % erhöht. Überraschenderweise sind moderne Autos zwar schneller und komfortabler, aber nicht spritsparender. Und weniger gefahren wird auch nicht. Nein, es gibt erheblich größere Gefahren für die Preisentwicklung in der Energieversorgung als ein Viertel der Versorgung schrittweise zurückzufahren: zum Beispiel die Kartellbildung innerhalb der Energieerzeuger. Und Energiegiganten wie AKWs tragen zu solchen Auswüchsen bei. Oder geopolitische Risiken bei der Versorgung mit Primärenergieträgern, egal ob Öl, Gas oder auch Uran. Wobei fairerweise festzuhalten ist, dass Uran hauptsächlich aus politisch stabilen Regionen wie Kanada kommt.

Die Kernenergie kann mit dem Pfund der kohlendioxidfreien und der – derzeit – kostengünstigen Erzeugung von elektrischer Energie wuchern, sie lebt aber auch mit der Hypothek der Endlagerung von radioaktiven Abfällen. Deutschland tut sich enorm schwer damit, wobei die politischen Probleme die technischen übersteigen. Ich muß aber leider zum derzeitigen Zeitpunkt annehmen, dass die weltweit zur Endlagerung anstehenden Abfälle großzügig reichen sollten, die aktiven und auch die geplanten Lagerstätten zu füllen. Mit verläßlichen Zahlen ist das dabei so eine Sache. Vielleicht kann mir ja jemand dabei helfen. Begrenzt auf Deutschland ist es aber klar: es gibt kein Endlager. Eine massive Hypothek für die Zukunft ist dieses Problem aber allemal, genauso wie das Kohlendioxid aus fossilen Energieträgern.

Insgesamt betrachte ich den Rückzug aus der Kernenergie in Deutschland nicht als Risiko, sondern als Chance. Es gibt hier gut ausgebildete Ingenieure, die Alternativen erarbeiten können, es gibt nirgendwo soviel Widerstand gegen Kernenergie, und nirgendwo soviel Akzeptanz erneuerbarer Energieformen. Und die erneuerbare Energie ist ein riesiges Reservoir: Der Primärenergieverbrauch in Deutschland ist im niedrigen Prozentbereich dessen, was uns die Sonne gratis spendiert. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn da nichts zu holen ist. Aber: Man muß sich an die Arbeit machen! Der erworbene Wissens- und Technologievorsprung sollte sich aber sehr gut vermarkten lassen.

Das Nutzen alternativer Formen der Energieerzeugung, und damit die langfristige Vermeidung von AKWs und radioaktiven Abfällen, ist damit konstruktive Industrie- und auch Sicherheitspolitik. Mein Resumee zum »Atomausstieg« ist daher: Man muß das eine tun ohne das andere – vorzeitig – zu lassen. Es gibt andere Fäden, an denen die hiesige Sicherheit und der deutsche Wohlstand hängt und die viel seidener sind als der »Atomkonsens«.

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